Kurt-Helmuth Eimuth/Martin Jürgesi
Die sogenannten »Neuen Jugendreligionen«
Erfahrungen und Reflexionenaus der konkreten Beratungs- und Aufklärungsarbeit
Anfang des Jahres 1975 riefen besorgte Eltern im Ev. Stadtjugendpfarramt Frankfurt an,
um sich über eine ‚christliche Wohngemeinschaft‘ zu informieren. Es stellte sich heraus,
daß diese ‚Wohngemeinschaft‘ eine ‚Kolonie‘ der ‚Kinder Gottes‘ war. Wir nahmen
dieses Problem auf und druckten im Mai 75 eine Kurzinformation im ‚WIR-Heft‘, dem
Mitteilungsblatt der ev. und kath. Jugend, ab, um unsere ehrenamtlichen Mitarbeiter
auf dieses Problem aufmerksam zu machen.
Da nach unseren Beobachtungen die neuen Jugendreligionen sehr massiv in den Fußgängerpassagen
der Frankfurter Innenstadt warben, verteilten wir 1976 ein Faltblatt
zur Aufklärung. Dabei informierten wir über folgende Gruppierungen: Die ‚Vereinigungskirche
des Koreaners Mun, die ‚Kinder Gottes‘, die sich jetzt ‚Familie der Liebe‘
nennen, die ‚Hare-Krishna-Gesellschaft‘, die ‚Scientology-Organisation‘ des ehemaligen
Science-Fiction-Autors L. Ron Hubbard und die ‚Divine Light Mission‘ des Guru
Maharaj Ji.
Diese Aktion entwickelte schnell die voraussehbare Eigendynamik. Je mehr informiert
wurde, desto mehr Anfragen von Eltern und Jugendlichen erreichten uns. Denn
erst jetzt wurde ihnen die Problematik deutlich.
Der Beitritt des Jugendlichen X zu einer ‚Jugendreligion:ii
Der Jugendliche X wurde auf der Straße mit den Fragen »Fühlst Du Dich glücklich?«
und »Glaubst Du an Gott?« angesprochen. Er wußte auf diese existenziellen Fragen keine
Antwort. Er blieb erst einmal stehen und wurde in ein missionarisches Gespräch
verwickelt.
In diesem Moment umwickelt eine gut einstudierte ‚Umarmungs-Maschinerie‘ den
zweifelnden Jugendlichen. Das Motto der Mission lautet: Es ist alles ganz einfach!
Zitat aus einem Brief eines Kind Gottes: »So lernte ich Jesus durch ein kleines Gebet
kennen. Seitdem erkannte ich immer mehr die wahren Hintergründe für unsere derzeitige
weltpolitische Situation und eine Lösung für ein besseres Zusammenleben?«
Der Jugendliche X wird in das Zentrum der ‚Christlichen Vereinigung‘ eingeladen. Da
der Jugendliche X gerade nichts Besseres zu tun hat, geht er mit. Das Zentrum wirkt
auf ihn ’nett‘. Andere Gruppenmitglieder reden ebenfalls mit ihm. Dabei wird der Jugendliche
X mit der verblüffenden Offenbarung konfrontiert, daß Gott ihm jetzt, in
diesem Moment, die einmalige Chance biete, zu helfen, das Glück der gesamten
Menschheit herbeizuführen. Durch diesen und nur durch diesen Weg könne er zu Gott
finden. Selbstverständlich verlange Gott den ganzen Menschen für sein Vorhaben. Man
könne sich nicht halb für Gott entscheiden.
Der Jugendliche X solle sich dies einmal durch den Kopf gehen lassen. Selbstverständli ch
hätte er jetzt noch Fragen, aber diese seien auf die Schnelle nicht zu beantworten.
Es gebe allerdings die Möglichkeit, kostenlos an einem Wochenende die >göttlichen
Prinzipien« zu studieren. Hierzu sei er recht herzlich i n i h r Trainingszentrum eingeladen.
Der Jugendliche X ist zweifelnd aber doch fasziniert. E r beschließt das nächste Wochenende
im Trainingszentrum zu verbringen. Dort werden Vorträge gehalten, Lieder gesungen
und Spaziergänge gemacht. Der Jugendliche X fühlt sich wohl. Er ist an diesem
Wochenende nicht allein. Der Jugendliche X ist ebenso wie die anderen Kursteilnehmer
begeistert. Er unterhält sich mit ihnen und spürt, daß diese schon regelrecht von
dem neuen Gedanken erfaßt sind. Der Jugendliche X weiß nicht, daß diese anderen
Kursteilnehmer zum Teil schon langjährige Mitglieder der Gruppe sind. U m ebenso
‚mitreden‘ zu können, meldet sich der Jugendliche X für einen Wochenkurs an gleicher
Stelle an. Die Konsequenzen dieser Sache sind dem Jugendlichen X nicht klar.
Der Jugendliche X fährt mit großen Erwartungen wieder i n das Trainingszentrum.
Dort w i r d er genauso nett begrüßt. Der Tagesablauf sieht folgendermaßen aus:
7.30 Uhr Aufstehen
7.40 Uhr Frühsport
8.00 Uhr Waschen und Anziehen
8.30 Uhr Frühstück
10.00 Uhr Vortrag
12.00 Uhr Pause
12.30 Uhr Vortrag
14.00 Uhr Mittagessen
Nach dem Mittagessen geht der Jugendliche X entweder m i t der Gruppe spazieren, betreibt
Sport oder liest noch einmal das besprochene Thema i n den ‚Göttlichen Prinzipien‘
nach.
17.00 Uhr Vortrag
18.30 Uhr Pause
18.50 Uhr Vortrag
20.00 Uhr Abendessen
Nach dem Abendessen sitzt der Jugendliche X entweder mit anderen so zusammen, um
mit ihnen zu spielen oder über die besprochenen ‚Prinzipien‘ zu reden. Der Jugendliche
X ist nie alleine oder gelangweilt, da alles gut vorgeplant ist.
Der Jugendliche X wird mit einer geschlossenen, in sich logischen ‚Lehre‘ konfrontiert,
die die Lösung aller Probleme verspricht, da in naher Zukunft das Paradies errichtet
würde.
Der Jugendliche X begreift, daß er die Verantwortung für seine ‚Familie‘ (so bezeichnet
sich die Gruppe) übernehmen muß. Es geht i hm um das Seelenheil von 3,5 M i l l i a r den
Menschen. Er muß sein Leben sofort und radikal ändern.
Der Jugendliche X verkauft deshalb seine Stereoanlage, hebt sein Geld vom Sparkonto
ab und exmatrikuliert sich. Er bittet seine Eltern, zu versuchen, i h n zu verstehen: am
besten wäre es, sie würden selbst ebenso handeln. Der Jugendliche X fährt i n das deutsche
Hauptquartier der Gruppe, übergibt dort seinen Besitz und überläßt seinen Wagen
dem Wagenpark der Gruppe.
Nach drei Monaten erfahren die Eltern und Freunde, daß sich i h r Sohn bzw. Freund
seit zwei Wochen am Golf von Mexiko befindet. Der Jugendliche X t e i l t m i t , daß er für
die gemeinsame Sache beim Schiffsbau helfen würde. Der Jugendliche X beteuert noch
einmal, er habe dies alles f r e i w i l l i g getan und zum ersten Mal i n seinem Leben habe er
das Gefühl frei zu sein.
Zwei Jahre später w i r d der Jugendliche X i n eine deutsche Nervenklinik eingeliefert.
Das Phänomen der erzwungenen Freiwilligkeit*).
Eine — oberflächlich betrachtet — konsequente und einleuchtende Ideologie prasselte
auf den Jugendlichen hernieder. Hinzu kam eine Atmosphäre der Geborgenheit, des
netten Miteinanders, die man in Schule und Betrieb nicht findet. Der Jugendliche wurde
— so hat es den Anschein — um- und versorgt. Die Gemeinschaft ist sich einig. Daß
jedes abweichende Verhalten sofort durch Liebesentzug sanktioniert wird, ist dem
‚Opfer‘ nicht deutlich. Ehemalige berichten, daß die Äußerung einer Frage, durch peinliches
Schweigen, durch ernste und starre Blicke und ‚Für-Bitte-Gebet‘ sanktioniert
wird.
Der Jugendliche, der sich einer ‚Jugendreligion‘ jenes oben beschriebenen Typs angeschlossen
hat, gibt sich auf, lebt nur nach Sektennorm und bekommt hierfür sehr viel
Lob und Anerkennung. Jede kleine Abweichung von dieser Norm wird jedoch sofort
bestraft.
Dieser Mechanismus kommt dem von Thomas Ziehe beschriebenen ‚Neuen Sozialisationstypus‘
entgegen, dessen wesentlicher Konflikt sich von der Ich-Überich-
Beziehung auf eine Ich-Ichideal-Beziehung verschoben hat. Der in unserer Gesellschaft
materiell versorgte und mit überzogenen Erwartungshaltungen vollgestopfte Jugendliche
baut sich ein Ichideal auf, das einen Vergleich mit dem realen Ich nicht standhält.
In diesen Gruppen gibt der Jugendliche sein Ich weitgehend zugunsten des kollektiven
Gruppenichs auf. Dies ist durch die systematische Ausschaltung der kritischen Intelligenz
möglich geworden, da so alle gruppenkonformen Handlungen als Entscheidung
des ‚freien Willens‘ empfunden werden. Durch die Teilhabe am Gruppenideal fühlt sich
der Jugendliche gestreichelt und bestätigt, denn er ist dem früher unerreichbaren Ichideal
nahe.
Jetzt handelt der Jugendliche aus ‚freiem Willen‘ und ‚eigener Erfahrung‘ nur noch im
Gruppensinne.
Vor diesem Hintergrund muß das Phänomen der ‚erzwungenen Freiwilligkeit‘, welche
in der Literatur (1) als »Seelenwäsche« bezeichnet wird, gesehen werden. Als »Seelenwäsche
« wird ein Verfahren zur Ausschaltung der kritischen Intelligenz bezeichnet,
das am Betroffenen — im Gegensatz zur Gehirnwäsche — mit dessen unterschwelligem
Einverständnis durchgeführt wird.
Friedrich Hacker beschreibt dieses ’neue‘ Problem so: »Heute können Menschen gezwungen
oder manipuliert werden, daß, was sie gemäß dem Willen ihrer Manipulateure
und Zwingherren tun und unterlassen müssen, scheinbar freiwillig zu tun und zu unterlassen.
Denn nicht nur äußeres Verhalten und innere Gedanken und Gefühle sind
steuerungsfähig, sondern vor allem auch der in der intimen Persönlichkeitsphäre angesiedelte
freie Wille, das Erlebnis der Freiwilligkeit. Durch die totale Kontrolle einer
totalen Institution kann auch der normale Erwachsene — zurückgeworfen auf ein frühkindliches
Stadium äußerster Hilflosigkeit, nunmehr dem Kleinkind gleich, zu dem er
reduziert wurde — erzogen, umerzogen, dressiert, trainiert und indoktriniert werden.
Aus dieser meist nur allzu erfolgreichen ‚Erziehungsperiode‘ geht ein gänzlich veränderter
’neuer‘ Mensch hervor, jemand, der glaubt und glauben muß, daß er frei wählt
und w i l l , was ihm tyrannisch eingegeben und eingeimpft wurde. Freiheit, die sie meinen
und bewilligen und auferlegen, wird dann zur einzigen, die es gibt und die es geben
darf.« (2)
Ein ’normaler Fall‘ aus der Praxis:
Brigitte, 18 Jahre, wohnte seit etwa einem Jahr in einem Schwesternwohnheim. Sie
war von einem kleinen Dort in die Großstadt gekommen, um Krankenschwester zu
werden. Wie in den späteren Gesprächen deutlich wurde, hatte sie eine starke — aber
diffuse — soziale Motivation. Sie sagte: »Ich wollte helfen.«iii
Der autoritär strukturierte Krankenhausbetrieb machte i h r emotional zu schaffen:
»Wenn du 5 Min. m i t einem Patienten redest, wirst du angeschissen, da du zu lange
beim Bettenmachen brauchst.«
Der Schichtdienst, das kontakthemmende Wohnheim, i n dem Herrenbesuch verboten
ist, die Umklammerung durch das Elternhaus mit der Erwartung, daß die Tochter an
jedem freien Wochenende nach Hause kommt, und die als obenflächlich empfundenen
Bekanntschaften, verstärkten das Gefühl der Einsamkeit.
B r i g i t t e wurde donnerstags von den ‚Kindern Gottes‘ i n einer Fußgängerpassage angesprochen.
Freitags traf sie sich wieder m i t ihnen, und verteilte bereits Mo-Briefe. (Der
versteckt lebende Gründer der ‚Kinder Gottes‘, Mose David (Mo), d i r i g i e r t mittels dieser
Traktate seine Organisation).
B r i g i t t e fuhr zusammen mit den beiden i h r bekannten Missionaren i n das Zentrum der
Gruppe (‚Kolonie‘), um sich dort umzusehen. Sie fühlte sich sofort wohl i n der Gruppe.
I n einem späteren Interview drückt sie es so aus:
»Ich habe mich da zu Hause gefühlt.«
Sie bleibt bis Montag bei der Gruppe. Sonntags hat sie aber schon die sogenannten ‚Mo-
Regeln‘ unterschrieben. Diese sogenannten Regeln fordern absoluten Gehorsam, Besitzlosigkeit
und Einsatz für die ‚revolutionäre‘ Sache. Dies geht so weit, daß die Gruppe
den Aufenthaltsort bestimmt. Gemäß diesen Regeln, kündigte sie ihre Arbeitsstelle
und hob alles Geld von i h r em Sparkonto ab.
Der Arbeitgeber informierte die Eltern. Brigittes Bruder sprach am Montagabend mit
seiner Schwester. B r i g i t t e im I n t e r v i ew über dieses Gespräch: »Es ist irgendwie an m i r
vorbeigeflogen, was mein Bruder m i t m i r geredet hat. Ich weiß nicht mehr, was ich geantwortet
habe, das kann ich nicht mehr sagen. Ich habe das vergessen. Ich hatte einfach
das Gefühl, mit deinem Bruder hast du kein Wort mehr zu reden. Ich habe mich
überhaupt nicht mehr zu i hm hingezogen gefühlt, obwohl w i r früher ein sehr gutes Verhältnis
hatten.«
Brigittes Bruder bemühte sich um Information und gelangte so an unser Amt. Er konnte
B r i g i t t e dazu bewegen, zu uns zu kommen. I n diesem ersten Gespräch — welches
mehr ein Wunsch des Bruders als Brigittes eigener Wunsch war — war es zunächst einmal
wichtig, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, da die K l i e n t i n für eine rationale
Argumentation zunächst nicht zugänglich war. Diese kann erst nach Herstellung
einer emotionalen Bindung erfolgen.
An dieser Stelle wurde deutlich, i n welch schwierige Situation sich der Berater begibt
Die K l i e n t i n stellt unbewußt die ‚ A t t r a k t i v i t ä t ‚ des Beraters der der Gruppe gegenüber.
So äußerte B r i g i t t e im Interview: »Ich habe das Gefühl, ich soll da h i n (zu den K i dern
Gottes) gehen, aber ich darf nicht!«
Auf die Frage, warum sie denn Angst habe, noch einmal ‚dahin zu gehen‘, antwortete
sie: »Die Gruppe kann so gut reden, dann folgt man da einfach.«
Dann folgt man einfach. B r i g i t t e gelang es m i t H i l f e kontinuierlicher Gespräche, diesen
Zwiespalt tendenziell zu bearbeiten.
Die Problematik der Einschätzung des Symptoms ‚Jugendreligionen‘ durch die Öffentlichkeit
Staatssekretär Wolters vom Bundesfamilienministerium sprach auf der Pressekonfernez
(Juli 78) von 150 000 sektengeschädigten Jugendlichen in der Bundesrepublik. Dies
ist eine Zahl für die Schlagzeilen. Fachleute schätzen, daß die ‚Vereinigungskirche‘ bei
i n etwa stagnierende Mitgliederzahl 500 Anhänger, die Kinder Gottes max. 150 und die
Krishna-Bewegung höchstens 100 Mitglieder haben. Die Zahl der Anhänger der Divine
Light Mission ist schlecht schätzbar, jedoch werden auch sie nicht über 500 Anhänger
haben.
All diese genannten Gruppen sind darauf bedacht, ihre wahre Mitgliederstärke nicht
zu nennen. Im Gegensatz hierzu setzen die ‚Scientology-Church‘ und die Bewegung der
„Transzentendalen Meditation‘ ihre Mitgliederzahlen zu Werbezwecken ein. So gibt es
nach eigenen Angaben der ‚Scientology-Church‘ 30 bis 60 000 und der ‚Transzentendalen
Meditation‘ ca. 75 000 Mitglieder. Jedoch muß bedacht werden, daß jeder Kursteilnehmer
als Mitglied gezählt wird. Vermutlich gibt es dabei auch Doppelzählungen.
Die so relativierte Zahl der Jugendreligionangehörigen erscheint klein. Wichtiger als
die Mitgliederzahlen sind uns die Zahl der hilfebedürftigen Ex-Mitglieder. Über diesen
Sachverhalt gibt es kaum Unterlagen. Als Beispiel kann eine Zahl aus dem Jahre 1977
einen Eindruck vermitteln. In diesem Zeitraum sind 49 Personen — nach unseren Informationen
— aus der Vereinigungskirche ausgetreten. Kennt man die zerstörenden Auswirkungen
der Jugendreligionen, die in Amerika ‚Destructive cults‘ genannt werden,
so wird das Ausmaß der gesellschaftlichen Bedeutung dieses Phänomens deutlich. Es
ist zu vermuten, daß alleine im Einzugsbereich der Vereinigungskirche innerhalb eines
Jahres 49 Personen schwere psychische Veränderungen erlebten, die sie ohne fremde
Hilfe kaum bewältigen können. Einige von ihnen sind inzwischen in Nervenheilanstalten.
Hinzu kommen Familienangehörige und Freunde, die diese Konflikte mit durchleben
und tragen.
Bisher wurden die Kosten für die Rehabilitation noch nicht erfaßt, wohl auch, weil sie
zum großen Teil von den Eltern aufgebracht werden, da viele Anhänger weder rentennoch
krankenversichert sind.
Die sogenannten ‚Jugendreligionen‘ sprechen vorrangig Mittelschichtsjugendliche an.
Dies geht auch aus einer Information eines ehemaligen Mitglieds der Vereinigungskirche
hervor:
»Es war mir ebenfalls möglich, eine Liste einzusehen, in der auch die Berufe der einzelnen
angegeben waren. Interessant war daran festzustellen, daß 60 bis 70 % der männlichen
Mitglieder Studenten waren oder sind, die meisten haben ihr Studium abgebrochen.
Bei den weiblichen Mitgliedern sind ungefähr 70 bis 80 % Krankenschwestern
(oder ähnliches), die Hälfte davon mit Abschluß.« Die Vermutung, daß die Eltern dieser
Kinder sich besser artikulieren können, liegt nahe und kann von uns bestätigt werden.
So entstanden in Deutschland 4 Elterninitiativen gegen die sogenannten ‚Jugendreligionen‘,
die seit etwa 3 Jahren die Öffentlichkeit auf diese Problematik aufmerksam
machen.
Im Feb. 78 kam auf Grund des öffentlichen Druckes eine Fachtagung der ‚Bundeskonferenz
für Erziehungsberatung e.V.‘ in Hannover zustande. Dort zeigte sich deutlich,
daß die deutschen Psychologen und Psychiater noch nicht den amerikanischen Diskussionsstand
erreicht haben. Jedoch wurden diese nicht zuletzt durch ein Referat von
John Clark für diese Problematik sensibilisiert (3). Auch die erste ausführliche ‚Fallsammlung‘
der Bonner ‚Aktion für geistige und psychische Freiheit — Zusammenschluß
der Elterninitiativen‘ trug hierzu bei. Diese Fallsammlung steht für wissenschaftliche
Zwecke zur Verfügung (4).
Trotz all dieser öffentlichen Reaktionen stehen die Politiker dem Phänomen der „erzwungenen
Freiwilligkeit‘ hilflos gegenüber. Es bleibt ihnen nur, sich auf Verstöße gegen
die Steuergesetze, die Gemeinnützigkeit und die Sammelgesetze zu konzentrieren.
Eine ‚Sondergesetzgebung‘ steht nicht zur Debatte. Selbst die Elterninitiativen distanzieren
sich von einer solchen Forderung.
Auch in Frankfurt hat sich eine Elterninitiative gebildet, die an die Münchener angelehnt
ist. Ziel ist es, den Eltern aufzuzeigen, daß sie nicht alleine unter den Einwirkungen
der ‚Jugendreligionen‘ auf ihre Familie leiden. Erfahrungsgemäß hat es für die Eltern
eine befreiende Wirkung mit anderen über ihr Leid zu reden. Dies ist umso wichtiger,
solange diebreite Öffentlichkeit (insbesondere Nachbarn, Freunde) kein Verständnis
zeigen. Die Ängste der betroffenen Eltern sind so groß, daß sie z.B. bei Zusendung
von Informationen um weiße Briefumschläge bitten, »damit auch ja nichts bekannt
wird.«
Die Bearbeitung der familiären gesellschaftlichen Ursachen für die Flucht der Kinder
aus dem Elternhaus kann jedoch in den Elterninitiativen nur ansatzweise geleistet
werden.
Erfahrungen aus konkreter Beratungsarbeit
Jedem, der sich mit den sogenannten Jugendreligionen beschäftigt, kann es passieren,
daß plötzlich ein Ratsuchender vor i hm steht. Die folgenden Überlegungen werden
wohl niemanden zum Berater qualifizieren. Jedoch ist beabsichtigt, die Schwierigkeit
einer Beratungstätigkeit auf einem solch spezifischen Gebiet transparent zu machen
und die psychische Belastung der Berater zu beschreiben.
Beratung, als Hilfe zur Selbsthilfe, als Wiederspiegelung der Wünsche und Bedürfnisse
des Klienten reicht beim Problemfeld der sogenannten »Jugendreligionen« nicht aus.
Hier muß der Beratungsbegriff weiter gefaßt werden. Beratung beinhaltet i n diesem
Fall auch Information.
Zunächst läßt sich der Kreis der Ratsuchenden in vier Gruppen aufteilen:
1. Betroffene Eltern mit ablehnender Haltung gegenüber den ‚Jugendreligionen‘.
2. Jugendliche mit Kontakten zu einer der ‚Jugendreligionsgruppen‘.
3. Jugendliche die bereits Gruppenmitglieder sind.
4. Jugendliche die Gruppenmitglieder waren.
1. Betroffene Eltern mit ablehnender Haltung:
I n oft sehr langen Gesprächen (5 bis 6 Stunden sind keine Seltenheit) besteht die Gefahr,
daß sich die äußerst negative Einschätzung und die aggressive Haltung der Eltern
auf den Berater überträgt. Es geschieht durch das Miterleben des konkreten Leidens
der Eltern. Der Berater sollte trotzdem die nötige Distanz beibehalten.
Dies w i r d jedoch durch den Wunsch der Eltern nicht nur Informationen zu bekommen,
sondern auch konkrete Hilfe für ihre Kinde zu erlangen, z.B. i h r K i n d m i t Gewalt aus
einer der Gruppen zu holen, erschwert.
Mit diesem elterlichen Wunsch kann man auf dreifache A r t und Weise umgehen:
Dem Wunsch der Eltern, der Berater solle doch »mal hingehen und i h r K i n d herausholen
«, ist auf alle Fälle zu widersprechen. Der Berater sollte sich allerdings darüber im
Klaren sein, daß er (überzogene) Erwartungen der Eltern nicht erfüllt, was im
schlimmsten Falle dazu führen kann, daß die Eltern alleine eine (gewaltsame) A k t i on
durchführen, die i n fast allen Fällen scheitern muß.
Es besteht die Möglichkeit, mit den Eltern gemeinsam eine A k t i o n durchzuführen. Es
w i r d auf alle Fälle den Berater zeitlich und psychisch stark i n Anspruch nehmen. (Betont
werden muß wohl nicht, daß diese A k t i o n nur gewaltfrei durchgeführt werden
kann).
Trotz der klaren Absage an die Gewalt, w i r d der Berater sich ständig fragen — ja fragen
müssen — ob es r i c h t ig ist, einen Jugendlichen, der glaubt den Weg zu Gott gegangen
zu sein, von diesem wieder abzubringen. Das Problem: Ist die Hinwendung zur einer
‚Jugendreligion‘ die Äußerung eines freien Willens, einer durchdachten Entscheidung
oder handelt es sich um »erzwungene Freiwilligkeit«?
Es ist leicht nachzuempfinden, daß hier jeder Berater i n ein Spannungsfeld gerät, in
dem er nie die Orientierung verlieren sollte.
Theoretisch bleibt als d r i t t e Möglichkeit, den Eltern abzuraten, ihr K i n d aus einer dieser
Gruppen herauszuholen. Dies kann i n Fällen angezeigt sein, i n denen man von einer
starken Verunsicherung der psychischen Gesamtkonstitution ausgehen muß. Hier
kann es sinnvoller sein, sich für eine bestimmte Zeit auf die Rolle des Beobachters zu
beschränken.
2. Jugendliche mit Kontakten zu einer der »Jugendreligionen«
Bei diesen Jugendlichen muß zunächst versucht werden, Beweggründe für die Sympathie
mit dieser oder jener Gruppierung zu erkunden. Diese Gründe können i n einfacher
Neugierde oder i n der Unzufriedenheit mit der Amtskirche liegen. A m häufigsten sind
hier jedoch psychologische Gründe (z.B. unbewußte sexuelle Neugierde, Suche nach einem
Vater und Partnerkonflikte) ausschlaggebend.
Einem solchen Jugendlichen muß Hilfestellung zur Findung einer Lebensalternative
gewährt werden. Dieser Weg ist auf alle Fälle mit dem Jugendlichen gemeinsam zu erarbeiten.
3. Jugendliche die bereits Gruppenmitglieder sind:
I n diesen Gesprächen liegt für den unerfahrenen Berater eine besondere Gefahr. Immer
dann, wenn der Berater das Gefühl hat, es war eine besonders qualifizierte Disskussion,
wurde am wenigsten erreicht. Dies komm daher, daß z.B. die Vereinigungskirche
voraussagt, daß i n scharfer und spitzer Argumentation das Satanische im Gegenüber
erkennbar sei.
Bei solchen Gesprächen ist es viel wichtiger, den emotionalen Bereich anzusprechen.
Atmosphäre und nonverbale Signale können die anfängliche Skepsis der Jugendlichen
beseitigen. Erschwert w i r d jedoch die Aufgabe des Beraters, wenn der Jugendliche auf
Druck der Eltern zu i hm gekommen ist. Aber selbst i n dieser Situation sollte versucht
werden, eine individuelle Basis des Vertrauens zu schaffen.
4. Jugendliche die Gruppenmitglieder waren:
Bei diesen Gesprächen wird der Berater — besonders wenn auch er ein kritisches Verständnis
zur Gesellschaft hat — stark gefordert. Denn welche Alternativen kann der
Berater anbieten?
Der Berater fühlt sich oft hilflos, wenn der Jugendliche ihm erklärt, daß die Eltern
froh sind, da alles wieder so werden solle wie früher. Alles solle in »geordneten Bahnen
« verlaufen.
Ansätze alternativen Lebens könnten z. B. christliche Wohngemeinschaften wie die
‚Offensive junger Christen‘ in Bensheim oder wie Wohngruppe von Frau Mamay in Altenberg
darstellen. Bedacht werden muß jedoch, daß auch eine solche Wohngruppe eine
Flucht vor der Realität darstellen kann, welches für uns nicht das Ziel der Jugendarbeit
ist.
Anzumerken ist noch, daß in Deutschland — soweit uns bekannt ist — niemand ein Verfahren
des Deprogrammingiv befürwortet. Von einigen der sogenannten »Jugendreligionen« wird jedoch
dieser Eindruck erweckt.
Gesellschaftliche Hintergründe?
Beim Umgang mit dem Problem ‚Jugendreligionen‘ verloren w i r die Frage nach den
Ursachen für diese Art der Flucht Jugendlicher aus dem gegenwärtigen Alltagsleben
nicht aus den Augen. Schließlich ist das gesamte Problem nur ein Symptom unter vie-
len anderen, nur eine der Spitzen eines Eisberges mit Dreitem Sockel. Parallele Symptome
sind u.a. die ansteigende Selbstmordneigung bei Jugendlichen, ständig zunehmender
Tabletten- und Alkoholkonsum, starke Neigungen zu radikalen Gruppen, die
eine grundsätzliche Veränderung der Verhältnisse versprechen. Der Sockel dieses Eisberges,
die Ursachen für diese Symptome lassen sich nicht leicht auf eine Formel bringen.
Nach unseren Beobachtungen spielen folgende Erfahrungen Jugendlicher dabei eine
entscheidende Rolle (vgl. Mat. 3 in Kap. 4.5.):
— Sinn
Die »moderne« Gesellschaft ist zu einem undurchschaubaren, von sogenannten »Sachzwängen
« beherrschten System geworden.
Besonders innerhalb der Jugend herrscht das Gefühl einer allgemeinen inneren und äußeren
Orientierungslosigkeit vor. In dieses Situation macht sich ein intensives Suchen
nach der Sinnhaftigkeit und Ganzheit menschlicher Existenz breit.
— Zukunft
Ausbildung (Schule, Lehre, Studium) — und damit ein wesentlicher Teil ihres Lebens
erscheint vielen Jugendlichen wegen der schlechten Zukunftsperspektiven sinnlos:
»Warum soll ich mich anstrengen, wenn ich das, was ich hinterher tun möchte, sowieso
nicht tun kann?«
Die jungen Leute müssen heute »untergebracht« werden. Um überhaupt einen
Ausbildungs- oder Arbeitsplatz in der Zukunftsgesellschaft zu ergattern, sind sie einem
starken Leistungs- und Konkurrenzdruck unterworfen. Damit wird Gruppengefühl
unterbunden, soziales Verhalten aberzogen, Rücksicht auf Schwächere nicht mehr
gelernt — Aggressionen und gegenseitige Brutalität nehmen zu.
— Familie
Ein großer Teil der Eltern leiden heute unter ihrer eigenen Existenzangst im Blick auf
ihre berufliche Zukunft. Diese Ängste werden häufig mit überzogenen Leistungsanforderungen
an die Kinder und Jugendlichen weitergegeben: »Ihr sollt es ja einmal besser
haben.« Viele Jugendliche erfahren in ihrer Familien, in den menschlichen Krisen und
Zerrüttungen ihres Elternhauses, die Wahrheit der biblischen Alternative: »Ihr könnt
nicht Gott dienen und dem Mammon!«, und sie entscheiden sich gegen den Mammonsdienst
ihrer Eltern. Dem Bruch mit dem Elternhaus entspricht oft der Bruch mit der
Kirche bzw. der christlichen Tradition. Die Kirche wird vielfach — wie Elternhaus und
Schule — als autoritäre Instutition empfunden.
— Schule
Die Schule hat weithin durch den Ausfall von Leitbildern ihre Erziehungs- und Bildungsaufgabe
preisgegeben und sich auf Information und Vermittlung meist interlektueller
Fertigkeiten zurückgezogen. Das Wissen und Können der Schüler sollen erweitert,
bereichert und vertieft werden, nicht aber ihr Empfinden, ihre Emotionalität und
ihre innere Erlebniswelt.
— Staat
Viele junge Menschen stehen dem Staat und seinen Einrichtungen kritisch gegenüber.
Immer mehr Jugendliche (und auch Erwachsene) wenden sich vom Selbstverständnis
der jetzigen Zivilisation ab. Die »Krise der industriellen Gesellschaft« mit all ihren
sichtbaren Ersheinungen (Energieproblem, Umweltproblem, Arbeitslosigkeit, Primat
der Wissenschaft gegenüber Politik und Individuum etc.) hat zu einer Erschütterung
des Fortschrittsglaubens geführt.
Jenes Vertrauen in den wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt war die »Religion
« der letzten Generation.
— Verbindlichkeit
Mit der Verdichtung der Ballungszentren, der zunehmenden Kompliziertheit von Gesellschaft,
dem zunehmenden Konkurrenz- und Leistungsdruck an Arbeitsplatz und
Schule etc., der »Krise« der Familie ist die Fähigkeit persönliche Verbindlichkeiten
einzugehen, gesunken. Die Fähigkeit Vertrauen zu entwickeln, Zuwendung und Liebe
zu üben, ist auf den engsten persönlichen Bereich beschränkt.
Demgegenüber wächst die Sehnsucht nach echter Gemeinschaft, einer Gemeinschaft
der ähnlich Denkenden, Fühlenden und Glaubenden, der gleichermaßen Engagierten
oder auch Verzichtleistenden.
Hinter der Suche nach Geborgenheit i n der Gruppe verbirgt sich oft die verständliche
Angst des jungen Menschen, sich nun allein i n den verwirrenden sozialen Bezügen unserer
komplexen Gesellschaft zurechtfinden zu müssen.
I n dieser Situation haben a l l jene Gruppen — seien sie politisch oder religiös motiviert
—eine Chance, die Radikallösungen anbieten. Mit dem Satz: »Es muß alles anders werden«
w i r d eine bei vielen vorhandene Stimmung aufgegriffen. Für viele braucht dann kaum
noch deutlich gesagt zu werden, wie es denn anders gemacht werden soll; allein der
Vorsatz, es radikal anders machen zu wollen, genügt. I n diesem Zusammenhang sind
die Jugendreligionen i n der Reihe vieler anderer Versuche zu sehen, aus dem gesamten
System auszubrechen. Der regressive Rückzug in die Individualitä t ist ebenso
eine Parallelerscheinung wie der Ausbruch i n radikale, politische Gruppierungen auf der
rechten oder auf der linken Seite. Hier wie dort ist die Triebfeder die — oft berechtigte
— Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation. Und dennoch kann es sich hier
wie dort um eine Flucht aus der Gegenwart handeln, eine Flucht, die die Gegenwart
nicht verändert, sondern sie zu Gunsten eines endzeitlichen Weltbildes unverändert
läßt. Nachfolge Jesu ist das nicht — auch wenn die Jugendreligionsgruppen dies gelegentlich
behaupten. Jesus hat auch i n seiner Gegenwart gehandelt, hat Menschen und
Welt um sich herum verändert.
Wenn diese Analyse stimmt, wenn die Triebfeder des ‚Aussteigens‘ die Unzufriedenheit
ist, das Leiden an den Widersprüchen der Gesellschaft, das Leiden an der Spannung
zwischen dem, was geschehen muß und dem, was geschieht — dann kann auch das
Phänomen der Jugendreligionen Hoffnung machen: Der Erfolg der Jugendreligionen
wäre dann ein Zeichen dafür, daß die Unruhe der Jugend, das Leiden an der gegenwärtigen
Ungerechtigkeit nicht zu Ende ist. Er wäre ein Zeichen dafür, daß die Suche nach
der besseren Welt, die Suche nach mehr Gerechtigkeit, mehr Lebensqualität, mehr
Freiheit, nicht zur Ruhe gekommen ist. Aufgabe kirchlicher Jugendarbeit wäre es —
zusammen mit anderen Jugendverbänden und Organisationen — diese Unruhe i n Bahnen
zu lenken, die eine konstruktive Veränderung der Gegenwart in Richtung auf eine
bessere Welt zur Folge hätten. Dabei müssen die Bedürfnisse der Jugendlichen nach der
Beantwortung der Sinnfrage, nach Geborgenheit und Orientierung berücksichtigt werden.
Hier muß Nachfolge Jesu konkret werden.
Probleme und Grenzen der Arbeit:
Um auf das Problem ‚Jugendreligionen‘ aufmerksam zu machen und Jugendliche davon
abzuhalten, unkritisch einer solchen Gruppe beizutreten, informierten w i r in
Frankfurt durch F a l t b l ä t t e r u n d Presseinformationen. Diese »Negativ-Werbung« ist jedoch
zugleich Werbung f ü r die Gruppen. Deshalb muß die Information gezielt bei Multiplikatoren
ansetzen, damit diese ggf. vorbereitet dem Problem gegenüberstehen.
Ein Versuch, die Informationsarbeit über diese Gruppen mit einem alternativen Angebot
der Jugendarbeit zu verbinden, ist die »Arbeitsgemeinschaft«, die die Gruppen beobachtet
und analysiert. Diese Arbeitsgemeinschaft besteht aus ehrenamtlichen Mitarbeitern
der Ev. Jugendarbeit in Frankfurt. Gerade wegen des inhaltlichen Schwerpunktes
»Jugendreligionen« stellen die Jugendlichen selbst große Erwartungen an ihre
eigene Gruppe als Gemeinschaft (vgl. (5)). Grenzen sind jedoch auch einer solchen Gruppe
schon durch die Wohnsituation gesetzt. Nach unserer Meinung muß innerhalb der
Kirche neu nachgedacht werden über ‚christliche Wohngemeinschaften‘, um Jugendli-
chen einen Raum zur Entfaltung, zur Erfahrung und zum Experimentieren mit ihrem
Leben zu bieten.
Einen solchen Versuch, der auch die Rehabilitation von Ex-Mitgliedern der ‚Jugendreligionen‘
aufzeigt, stellen w i r zum Schluß vor.
Bedacht sein muß dabei, daß diese Arbeit unendlich schwer ist. So hat John Clark die
psychischen Auswirkungen nach einer drei bis sieben Jahre andauernden Sektenzugehörigkeit
als irreversibel diagnostiziert.
Das beschriebene Projekt i n Altenberg ist mehr eine Selbsthilfeeinrichtung, die mit
klinischen Fällen überfordert wäre. Hier sind der Staat und die Wohlfahrtverbände
aufgerufen, Konzeptionen zu entwickeln. E i n Forschungsauftrag, wie i h n die Universität
Tübingen vom Bundesfamilienministerium bekommen hat, kann ein Anfang sein,
denn das Sichten und Katalogisieren vorhandenen Materials ist wichtig aber sicherlich
nicht ausreichend.
Ein Versuch konkreter Hilfe
Bericht eines Besuches bei Inge Mamay (Ostern 1978):
Frau Mamay sprach vor ca. 3 Jahren i n Rom einen Mann an, der zufällig bei den K i n dern
Gottes war. Er brachte sie i n diese Gruppe. Sie fühlte sich sofort wohl und blieb
dort.
Als sie nach 14 Tagen ihre Mutter anrufen wollte, wurde ihr dies verboten. Sie rief
trotzdem an.
Ihre schwerkranke Mutter zeigte sich tief besorgt und wollte sogleich nach Rom kommen.
Da Konsequenzen für die Gesundheit der Mutter zu befürchten gewesen wären,
fuhr Inge Mamay nach Hause.
Dort angekommen, brauchte sie drei Monate, um Distanz von dem Erlebten zu gewinnen.
Bei ihrer Suche nach Hilfe gelangte sie an die Kath. Kirche.
Später genügte es i h r nicht mehr, daß ihr geholfen wurde, sondern sie wollte selbst
warnen und helfen. Bei der Suche nach einer Möglichkeit zur Hilfe, war schnell die
Idee einer Wohngemeinschaft geboren.
Ein Priester konnte gewonnen und ein leerstehendes Pfarrhaus umfunktioniert werden.
Nach Konzeption wurde nicht lange gefragt, denn man sah die Notwendigkeit und
Dringlichkeit, den Jugendlichen, die einer »Seelenwäsche« unterzogen worden waren,
eine Alternative zu bieten. Diese ehemaligen Gruppenmitglieder der verschiedenen
‚Jugendreligionen‘ konnten und können nicht sofort i n e in ’normales Leben‘, vor dem
sie j a gerade geflohen waren, zurückkehren. Zeitweise wohnten bei und mit Inge Mamay
8 junge Leute.
Jedoch ist der Aufenthalt i n Altenberg keine ‚endgültige Lösung‘, sondern soll nur den
Übergang i n das als unerträglich empfundene Leben ermöglichen.
Dort ist Raum und Zeit für die Distanzierung und Reflexion des Erlebten. Die Auseinandersetzung
mit religiösen und existenziellen Fragen (Sinn des Lebens) ist i n der
Gruppe wichtig. Zweimal i n der Woche finden Gesprächsstunden m i t Theologen statt.
Teilweise w i r d das Projekt von der Kath. Kirche unterstützt, jedoch muß jeder Aufgenommene
100,— DM monatlich für die gemeinsame Haushaltskasse aufbringen.
Beim Umzug auf ein größeres Gelände am Rande von Altenberg, i n m i t t e n eines Waldes
am Hang gelegen, wurde deshalb auch i n einem der drei zur Verfügung stehenden Fachwerkhäuser
eine kleine Kapelle eingerichtet. Diese Kapelle, die auch als Meditationsraum
genutzt w i r d , ist sehr kärglich m i t flachen Bänken, die aus Holzbrettern und
Backsteinen bestehen, sowie mit aus Konservedosen gearbeiteten Windlichtern und einem
an einer schweren Eisenkette hängenden Kreuz, versehen.
Dieser karge, kleine und doch sehr warmherzige Atmosphäre ausstrahlende Raum
scheint die Konzeption dieses ‚Konzeptionslosen Projekts‘ widerzuspiegeln.
Durch Verzicht auf alle überflüssigen Konsumgüter lernen sie, zu sich selbst zu finden,
auch zur eigenen religiösen Einstellung.
Ziel von Inge Mamay war es nicht, die Jugendlichen zurück zur Kath. Kirche zu bringen
— dies war höchstens ein mit Wohlwonnen gesehener ‚Nebeneffekt.‘
In Altenberg wird sehr viel für den Ausbau der zum Teil zerfallenen Häuser getan. So
wurden Decken und Fußböden herausgerissen, ein Bad gebaut, eine Küche eingerichtet
und vieles andere mehr. Auch wird das zum Teil verwilderte Gelände in Stand gesetzt.
Literatur
(1) F.-W. Haack, Die neuen Jugendreligionen, München, Ev. Presseverband für Bayern;
(2) Friedrich Hacker, Freiheit die sie meinen, Hamburg 78, 9; (3) John Clark, in: Psychologie
Heute, Heft 3/78; (4) Fallsammlung der »Aktion für geistige und psychische Freiheit
«; (5) Ev. Landes Jugendinformation ‚Jugendreligionen‘, hrsg. vom Amt für Jugendarbeit,
Elisabethenstr. 51, 61 Darmstadt.
i aus: Kurt-Helmuth Eimuth/Manfred Oelke, Jugendreligionen und religiöse Subkultur, Frankfurt 1979, S. 145 ff
ii Der Fall X könnte etwa der Beitritt zur ‚Vereinigungskirche‘ oder zu den ‚Kinder Gottes‘ sein. Die anderen Gruppierungen
werben anders, wenngleich auch dort eine ‚Entmündigung‘ stattfindet. Deshalb sind die psychischen Folgen
für den Jugendlichen ähnlich.
iii Die folgenden Ausführungen machen wir nicht als Psychologen einer Beratungsstelle, sondern als Koordinationsstelle
und Impulsgeber der Ev. Jugendarbeit in Frankfurt, die (nebenbei) zur Anlaufstelle in Sachen Jugendreligionen
wurde. Eine besondere Qualifikation maßen wir uns nicht an.
iv Deprogramming ist ein Verfahren der Gehirnwäsche, welches von einigen amerikanischen Psychiatern angewandt
werden soll. Es w i r d auf eine »Seelenwäsche« (Soul-washing) mit einer Gehirnwäsche (braim-washing), die
eine totale Zerstörung der Persönlichkeit, des Ich’s voraussetzt, reagiert.